Irgendwo auf dem Camino del Norte (Galicien) | Oktober 2019…
Wow! Welche Euphorie! Welche Kraft! In was für einer fantastischen Welt befinde ich mich? Ich habe die Welt noch nie so erlebt, wie ich sie jetzt fühle. Die Sonne scheint, der warme Wind, eine Art Brise, fühlt sich wunderbar an. Es ist still hier, sehr still. Die Erfahrung, still zu stehen und dieser echten Stille zuzuhören, macht das überwältigende Gefühl das ich habe noch größer. Die Umgebung besteht aus einer traumhaft grünen Landschaft, in der die Aussicht endlos erscheint. Bis zum Horizont gibt es keinen, bis auf ein paar Kühe und Ziegen. Ich habe in den letzten Stunden niemanden gesehen und es sieht so aus als würde das die nächste Stunden so bleiben. Auf diesem Berg mit wunderschönen Ausblicken fühle ich mich wie auf dem höchsten Gipfel der Welt und diese Welt um mich herum ist leer. Ich weiß, dass die „wirkliche“ Welt weit weg ist. Hier ist Frieden, hier ist Ruhe, hier ist Leere, hier ist echte Stille und hier ist Entspannung. Nichts passiert hier. Es gibt eigentlich gar nichts. Meine Leere ist vollständig erfüllt von meiner Kraft, meiner Euphorie, der Natur, der Umwelt und der Ruhe. Ich fühle mich körperlich sehr stark, meine Arm- und Beinmuskulatur protzt vor Kraft und ist voller Energie. Das Licht. Alles ist so hell. Ich habe mich noch nie so entspannt und glücklich gefühlt.
Dies ist der höchste Punkt meiner Wanderung durch Spanien. Ich bin gerade von ungefähr fünfzig auf knapp achthundert Meter Höhe gelaufen, in einem sehr langen steilen Aufstieg. Der Weg war voller Felsbrocken, schlammig und schlängelte sich durch Eukalyptuswälder, die in tief hängender Bewölkung gehüllt waren. Die Düfte dieses Waldes werden durch den feuchten Nebel, durch den ich ging, verstärkt. Bis ich schließlich die Baumgrenze erreiche und die Umgebung nur noch aus grünen Wiesen und einem klaren blauen Himmel besteht.
Sehr früh heute Morgen habe ich diesen Aufstieg begonnen, der von allen, mit denen ich darüber gesprochen habe, gefürchtet wird. Von Anfang an ging es permanent steil bergauf. Ich genoss die Tiere um mich herum, ich genoss es allein zu sein, ich genoss es zu laufen, ich genoss die schönen Bäume und Pflanzen, ich genoss die Düfte. Vorher habe ich das nie so erlebt. Es ist fantastisch, meine Umgebung so intensiv wahrnehmen und erleben zu können.
Es ist die vierte und vorletzte Woche meiner Wanderung durch Spanien. Ich bin überrascht, dass ich diesen Berg so leicht bezwungen habe. Das hatte ich mir anders vorgestellt. Wochen vorher, als es weniger hohe Berge gab, war es so viel schwieriger für mich. Die Tatsache, dass ich mich jetzt so mächtig fühle macht mir deutlich, was mit mir in den letzten Wochen körperlich passiert ist. Mehr noch, was mental mit mir passiert ist.
In der ersten Woche war ich nach leichteren Aufstiegen völlig erschöpft und sah das Weitergehen als die unangenehmste Wahl an. Damals hatte ich aber keine andere Wahl. Jetzt bin ich stark und freue mich auf die nächsten dreißig Kilometer, die mich heute noch erwarten. In fünf Tagen, nach weiteren hundert sechzig Kilometern, werde ich Santiago de Compostela erreichen und mein Jakobsweg wird zu Ende sein. Ich denke lieber nicht daran.